Muss man Fleisch vor dem Braten wirklich aus dem Kühlschrank holen?

Man könn­te sich die Ant­wort ein­fach machen: natür­lich – schließ­lich bra­ten wir es ja auf dem Herd und nicht im Kühl­schrank. Ich habe etwas genau­er hin­ge­schaut und mich mit der Fra­ge nach dem Sinn des Gan­zen beschäf­tigt.

Die Fragestellung

Neben der Fra­ge nach dem rich­ti­gen Zeit­punkt für’s Sal­zen wird die Fra­ge nach der Kühl­schrank­tem­pe­ra­tur von Fleisch mit gera­de­zu reli­giö­ser Inbrunst dis­ku­tiert. Da bei prak­ti­schen Fra­gen theo­re­ti­sche Dis­kus­sio­nen nichts nüt­zen, habe es aus­pro­biert.

Dabei habe ich mir die fol­gen­den Fra­gen gestellt:

  • Wie lan­ge braucht Fleisch aus dem Kühl­schrank, bis es „Zim­mer­tem­pe­ra­tur“ hat?
  • Macht es bei der Zube­rei­tung einen Unter­schied, ob das Fleisch Kühl­schrank- oder Zim­mer­tem­pe­ra­tur hat?

Der Versuchsaufbau

Frage 1: Wie lange braucht Fleisch aus dem Kühlschrank, bis es Zimmertemperatur angenommen hat?

Ich habe zwei unter­schied­lich dicke Fleisch­stü­cke 24 Stun­den in den Kühl­schrank gelegt. Das Fleisch hat­te ich nicht extra für den Ver­such gekauft, son­dern unser Metz­ger des Ver­trau­ens hat­te uns zu den bei­den Kalbs­ko­te­letts, die ich eigent­lich haben woll­te, zusätz­lich ein dün­ne­res Stück ein­ge­packt. Ich hat­te also zwei Stü­cke von 4 cm Dicke und eins von 3 cm.

Ich habe ein dickes und das dün­ne Stück auf Tel­ler gelegt und mit Hil­fe eines Fleisch­ther­mo­me­ters die Tem­pe­ra­tur gemes­sen – bei­de Stü­cke hat­ten 9 Grad Kern­tem­pe­ra­tur. Die Tem­pe­ra­tur in der Küche lag zwi­schen 22 und 23 Grad.

Die span­nen­de Fra­ge: Wel­che Tem­pe­ra­tur wür­de das Fleisch nach einer hal­ben Stun­de haben, die in dem meis­ten Rezep­ten emp­foh­len wird?

Die ernüch­tern­de Ant­wort: Nach 30 Minu­ten hat­te das dicke­re Stück 11 Grad Kern­tem­pe­ra­tur und das dün­ne­re 12 Grad. Weit ent­fernt von Zim­mer­tem­pe­ra­tur.

Zum Glück hat­te ich reich­lich Zeit ein­ge­plant. Nach einer Stun­de hat­ten sich die Tem­pe­ra­tu­ren des dicken und des dün­ne­ren Stücks ange­gli­chen. Hier sind die Meß­ergeb­nis­se:

ZeitKern­tem­pe­ra­tur
Start9 Grad
nach 30 Minu­ten11 bzw. 12 Grad
nach 1 Stun­de14 Grad
nach 1,5 Stun­den16 Grad
nach 2 Stun­den17 Grad
nach 2,5 Stun­den18 Grad
nach 3 Stun­den19 Grad

Nach drei Stun­den immer noch kei­ne Zim­mer­tem­pe­ra­tur. Ich habe den Ver­such abge­bro­chen – schließ­lich woll­ten wir ja auch noch etwas essen.

Die bei­den Stü­cke habe ich dann 2 Stun­den im Back­ofen bei 60 bis 70 Grad gegart (genau­er geht’s mit mei­nem Back­ofen nicht) bis zu einer Kern­tem­pe­ra­tur von 50 Grad. Für die Röst­aro­men kamen sie dann noch kurz in eine sehr hei­ße Pfan­ne – das Ergeb­nis waren superz­ar­te und aro­ma­ti­sche Kalbs­ko­te­letts, wie bei der Nied­rig­tem­pe­ra­tur-Metho­de auch zu erwar­ten war.

Ergebnis

  • Das Ergeb­nis ist ganz klar: die häu­fig emp­foh­le­nen 30 Minu­ten nüt­zen fast gar nichts. Wenn man annä­hernd Zim­mer­tem­pe­ra­tur errei­chen möch­te, soll­ten min­des­tens drei Stun­den ein­ge­plant wer­den.

Was uns zur zwei­ten Fra­ge bringt.

Frage 2: Macht die Fleischtemperatur überhaupt einen Unterschied?

Da wir nicht so viel Fleisch essen, war ich erst ein paar Wochen spä­ter wie­der beim Metz­ger und habe zwei gleich dicke Kalbs­ko­te­letts erwor­ben. Eins davon habe ich drei Stun­den vor der Zube­rei­tung aus dem Kühl­schrank genom­men, das ande­re blieb bis kurz vor­her im Kühl­schrank.

Erwar­tungs­ge­mäß hat­te das eine Stück eine Kern­tem­pe­ra­tur von 19 Grad, das ande­re 8 Grad – die klei­ne Abwei­chung vom ers­ten Ver­such ist wahr­schein­lich auf die Mess­un­ge­nau­ig­keit mei­nes Fleisch­ther­mo­me­ters zurück­zu­füh­ren.

Bei­de Stü­cke kamen gleich­zei­tig in den auf ca. 70 Grad vor­ge­heiz­ten Back­ofen. Ich war etwas ner­vös: Ob ich wohl bei­de Stü­cke gleich­zei­tig ser­vie­ren könn­te? Oder ob mir viel­leicht eins zu roh oder zu tro­cken wer­den wür­de?

Ein Blick auf die Ther­mo­me­ter ergab fol­gen­de Meß­ergeb­nis­se:

ZeitStart bei Zim­mer­tem­pe­ra­turStart bei Kühl­schrank­tem­pe­ra­tur
Start19 Grad8 Grad
nach 30 Minu­ten34 Grad22 Grad
nach 1 Stun­de43 Grad42 Grad
nach 1,5 Stun­den48 Grad48 Grad

Auch die­ses Mal kam das Fleisch wie­der kurz in die Pfan­ne.

Ergebnis

  • Da die Stü­cke eine etwas nied­ri­ge­re Kern­tem­pe­ra­tur hat­ten als beim ers­ten Ver­such, waren sie noch saf­ti­ger – aber es war völ­lig egal, ob das Fleisch direkt aus dem Kühl­schrank in den Back­ofen gewan­dert war oder vor­her stun­den­lang auf eine höhe­re Aus­gangs­tem­pe­ra­tur gebracht wur­de.

Aber wie ist es beim Kurzbraten in der Pfanne?

Tja … dafür müss­te ich wohl noch ein­mal einen Ver­such star­ten, wenn wir mal wie­der Lust auf Fleisch haben. Aber man muss ja nicht alles selbst machen. Ich habe also bei Ken­ji López-Alt nach­ge­schaut, der sein dickes Buch „The Food Lab“ viel­ver­spre­chend mit „Bet­ter Home Coo­king Through Sci­ence“ unter­ti­telt. Da müss­te doch etwas zu fin­den sein.

Und in der Tat: Auf Sei­te 292 der ame­ri­ka­ni­schen Ori­gi­nal­aus­ga­be beschreibt er, wie er zwei Steaks mit unter­schied­li­chen Aus­gangs­tem­pe­ra­tu­ren grillt. Das Ergeb­nis ist das glei­che wie bei mei­nem Ver­such im Back­ofen: „Not only did they come up to their final tem­pe­ra­tu­re at near­ly the same time, but also they show­ed the same rela­ti­ve even­ness of coo­king, and they both seared at the same rate. Long sto­ry short: pul­ling your steaks out ear­ly is a was­te of time.

Fazit

Die Ergeb­nis­se mei­ner klei­nen Ver­suchs­rei­he sind ein­deu­tig:

  • Fleisch braucht deut­lich län­ger als die meist emp­foh­le­nen 30 Minu­ten, um auch nur annä­hernd Zim­mer­tem­pe­ra­tur zu errei­chen.
  • Für die Nied­rig­tem­pe­ra­tur-Metho­de kann ich aus eige­ner Erfah­rung sagen, dass es völ­lig egal ist, mit wel­cher Tem­pe­ra­tur das Fleisch in den Back­ofen kommt.
  • Für’s Kurz­bra­ten gibt es zuver­läs­sig Hin­wei­se, dass auch hier die Aus­gangs­tem­pe­ra­tur kei­ne Rol­le spielt.

Es gibt ande­re Gar­me­tho­den, bei denen mit nied­ri­ger Tem­pe­ra­tur und kur­zer Gar­zeit gear­bei­tet wird – z.B. wenn man Fisch pochi­ert. Auch wenn ich dazu kei­ne sys­te­ma­ti­schen Ver­su­che unter­nom­men habe, kann ich aus Erfah­rung sagen, dass es sich in die­sen Fäl­len durch­aus lohnt, das Gar­gut vor­her „auf Tem­pe­ra­tur“ zu brin­gen. Man muss nur genü­gend Zeit ein­pla­nen …

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